Lirabelle: Rassismus ist nicht neutral

Belle

In der aktuellen Lirabelle vom Winter 2020/21 berichtet die Antifa Suhl/ Zella-Mehlis über einen rassistischen Übergriff, der sich in der Nacht vom 29. auf den 30. August 2020 in einem Linienbus in Suhl Nord zugetragen hat und beurteilt die Berichterstattung der Lokalpresse sowie das Vorgehen der Polizei. Hier geht’s zum Artikel.

Von: Antifa Suhl/Zella-Mehlis

Dass Polizei und (Lokal-)Presse dem alltäglichen Rassismus in Deutschland nichts entgegenzusetzen haben, ist hinlänglich bekannt. Dass sie immer wieder als Aktuer*innen in Erscheinung treten, die die rassistische Motivation von Übergriffen leugnen und Ressentiments befeuern, ist eigentlich auch nichts Neues. Und doch schaffen sie es, ihren Rassismus in der öffentlichen Darstellung immer wieder unter dem Mantel der Neutralität zu verhüllen – und glauben wahrscheinlich auch selber daran. Dabei offenbart ein genauer Blick auf die scheinbar neutralen Ermittlungen und Berichterstattungen schnell das Gegenteil.

Polizei und Presse berichten von einer Auseinandersetzung

Am 1. September berichtet die Landespolizeiinspektion Suhl in einer Pressemitteilung von einer „Auseinandersetzung“, die sich gegen Mitternacht vom 29. auf den 30. August zwischen mehreren Fahrgästen in einem Linienbus Richtung Suhl Nord zugetragen habe. „Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand begann diese [Auseinandersetzung], als ein Mann aus Guinea ohne Mund-Nasen-Bedeckung in den Bus einstieg.“, heißt es da weiter. „Dieser wurde von mehreren Fahrgästen aufgefordert, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen.“ Daraufhin, so die LPI, entwickelte sich ein Streit, der im Wurf einer Bierflasche gipfelte. Damit war die „Auseinandersetzung“ aber nicht beendet, der durch den Schlag der Flasche verletzte Mann aus Guinea sei den aussteigenden Fahrgästen hinterher gelaufen und habe einen von ihnen am T-Shirt gezogen und ins Gesicht geschlagen. „Da auch weitere Fahrgäste aus dem Bus ausstiegen, entzündete sich der Streit erneut, so dass der Busfahrer die Polizei rief.“ Aber keine Sorge: „Die herbeigerufenen Beamten konnten den Streit schlichten und nahmen die Personalien der Beteiligten auf.“
Die Lokalzeitung, von der es in Südthüringen, in der es bekanntlich in Allem an Vielfältigkeit mangelt, nur eine gibt, nahm die Pressemitteilung der Polizei auf und „verfasste“ daraus einen Bericht. Das Verfasste ist hier in Anführungszeichen zu setzen, denn es ist (nicht nur in Südthüringen) üblich, die Pressemitteilungen der Polizei entweder eins zu eins zu übernehmen oder den Inhalt in anderen Worten noch einmal wieder zu geben. So berichtete auch das Freie Wort von einer „Auseinandersetzung um eine Mund-Nasen-Bedeckung“, die „eine blutige Wendung genommen [hatte]. Weil ein Mann beim Einstieg in einen Linienbus keine Maske trug, sei er von mehreren Fahrgästen aufgefordert worden, dies zu tun, teilte die Polizei am Dienstag mit.“
Um ein Detail ergänzt die Lokalpresse – das Freie Wort vom 1.September 2020 – aber ihre Berichterstattung: „Der von der Bierflasche verletzte Mann stammt aus Guinea. Den Angaben der Gruppe zufolge sei er von anderen Fahrgästen rassistisch beleidigt und von mehreren mit der Flasche ins Gesicht geschlagen worden. Zu dem Rassismus-Vorwurf äußerte sich die Polizei in ihrer Mitteilung zu dem Fall nicht.“
Die „Gruppe“ von der hier die Rede ist, sind wir: die Antifa Suhl/ Zella-Mehlis, welche von einem rassistischen Angriff im Bus nach Suhl Nord berichtete, bei der ein junger Mann, gebürtig in Guinea, von zwei Männern und einer Frau rassistisch beleidigt und mit einer Bierflasche mehrmals gegen den Kopf geschlagen wurde.

Rassistische Angriffe sind keine Auseinandersetzung!

Auf Grundlage der Erzählungen des Betroffenen berichteten wir damals davon, dass sich der junge Mann im Bus Richtung Suhl Nord befand, als an der Haltestelle Oberland die drei Täter*innen den Bus betraten. Die beiden ca. 25 Jahre alten Männer und die ca. 20 Jahre alte Frau begannen kurz nach ihrem Zustieg im Bus mit rassistischen Beleidigungen. Trotz der deutlich vernehmbaren Äußerungen der Täter*innen sah sich keiner der weiteren Fahrgäste dazu veranlasst einzuschreiten oder sich zu positionieren. Als die Täter an der Haltestelle Ringbergstraße aus dem Bus aussteigen wollten, begannen sie mit einer Glasflasche auf den jungen Mann einzuschlagen. Mehrmals schlugen sie ihm dabei ins Gesicht. Der Betroffene erlitt mehrere Platzwunden im Gesicht und am Kopf. Erst dann verständigte der Busfahrer die Polizei, welche die Täter*innen kurze Zeit später stellen konnte.
Nach einem Monat Ermittlungsarbeit hat die Polizei einen 32-jährigen Deutschen als mutmaßlichen Täter ermittelt, eine politische Tatmotivation konnte bis dato aber nicht eindeutig festgestellt werden. Wie die Polizeisprecherin Julia Kohl gegenüber dem Freien Wort äußerte, ergab die Auswertung der Videoaufnahmen (ohne Tonspur) aus dem Bus folgendes: „ Er [der Betroffene] provozierte mit Gestiken und seiner Mimik, woraufhin sich ein längeres Streitgespräch entwickelte. Es schloss sich die körperliche Auseinandersetzung an, in welcher die Flasche geworfen wurde“ (Zitat, wie die Folgenden aus dem Freien Wort vom 30.9.2020). Folgerichtig spricht die Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ezra in einer Pressemitteilung dahingehend von einer Täter-Opfer-Umkehr, die sich aber nicht erst in der Auswertung der Ereignisse geltend macht, in der der Betroffene eines rassistischen Übergriffs eine Mitschuld unterstellt wird, in dem man behauptet, er habe die ihm zugefügte gefährliche Körperverletzung mit Mimik und Gestiken provoziert. Bereits vor Ort nämlich, „befragten sie [die Beamt*innen der Polizei] im Folgenden ausschließlich die Täter*innen und zeigten keinerlei Fürsorge gegenüber dem verletzten Betroffenen. ‚Die Polizei war sehr unfreundlich zu mir. Sie haben nur meinen Ausweis kontrolliert und ansonsten nicht weiter mit mir gesprochen‘, äußert sich der Betroffene zum polizeilichen Vorgehen.“

Stets um neutrale Berichterstattung bemüht

Die Bagatellisierungen der Polizei, bei der aus rassistischen Beleidigungen ein Streitgespräch gemacht und ein körperlicher Angriff zur Auseinandersetzung (an der ja immerhin zwei Parteien gleichermaßen beteiligt seien) wird, übernimmt die Lokalpresse in ihrer erneuten Berichterstattung vom 30. September ohne Kommentar und kritische Prüfung; und weiß sich dann aber doch deutlich in der Sache zu positionieren, wenn sie schreiben: „Der Fall hatte in sozialen Netzwerken hohe Wogen geschlagen, nachdem ihn eine Antifa-Gruppe als rassistischen Angriff gegeißelt [sic!] hatte.“
In einer Mail eines (anderen als dem Verfasser der zitierten Zeilen) Lokalredakteurs des Freien Worts beteuerte dieser seine guten Absichten. Neben der Rechtfertigung der unkritischen Übernahme von Informationen aus Polizeiberichten auf Grund gebotener Seriosität, schrieb er: „Wir versuchen, den grassierenden Gerüchten, den Übertreibungen, der Angstmacherei und der latenten Fremdenfeindlichkeit rund um das Suhler Geflüchtetenheim seriöse Informationen entgegenzusetzen.“ Was ein rassistischer Übergriff in einem Bus mit Gerüchten um die Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl zu tun hat, hat er im Verlauf der Mail leider nicht geklärt. Geschenkt. In Zusammenhang mit einem gewalttätigen, rassistischen Übergriff von latenter Fremdenfeindlichkeit zu sprechen, geht dann aber völlig an den Tatsachen vorbei.
All das zeigt, die Neutralität, der sich Polizei und Presse in ihrer Berichterstattung (und Ermittlung) verpflichtet sehen, besitzen sie selber gar nicht hinsichtlich der Bewertung der Geschehnisse. Nicht ihre Berichterstattung ist neutral, sondern der Gegenstand des Berichtens wird neutralisiert. Der rassistische Hintergrund der Tat wird ausgeblendet und aus einem brutalen Angriff in einem Linienbus wird ein Streit, der in einer Auseinandersetzung gipfelte. Der Vorfall löst sich auf in Bedeutungslosigkeit – zumindest in der öffentlichen Darstellung. Denn bedeutungslos ist er samt seine Folgen für den Betroffenen mitnichten.

Noch einmal zusammengefasst

In aller Öffentlichkeit wird in einem videoüberwachten Bus ein Mensch angegriffen, weil die Angreifer*innen ihn als Nicht-Deutschen identifizieren. Erst beleidigen sie ihn, als er aussteigt, schlagen sie ihm mehrfach mit einer Falsche vor den Kopf. Eingegriffen hat bis dato niemand, erst als die Situation eskaliert, verständigt der Busfahrer die Polizei. Diese kontrollieren den Ausweis des Betroffenen und wenden sich im Versuch, zu ergründen, was passiert sei, den Täter*innen zu. Im Nachgang berichten sie von einer Auseinandersetzung, die durch den Betroffenen provoziert worden sei – eine Darstellung, die die Presse übernimmt. Vermutlich nur auf Grund des hohen Drucks, der durch die weite Verbreitung des Vorfalls in den sozialen Medien ausgeübt wird, pflegt die Lokalpresse hier und da einen Satz zur politischen Motivation der Täter*innen ein: diese sei zwar nicht zweifelsfrei festzustellen, aber hier von Rassismus zu reden, würde – wie auch immer das funktionieren soll – den Vorfall geißeln (Armer Vorfall!). Der lokalen Antifagruppe und anderen Akteur*innen, die die Vorfälle als rassistisch benennen, wird mangelnde Seriosität unterstellt, weil sie in der gebotenen Neutralität berichten: Das nämlich ist eine, die sich mit den Betroffenen rassistischer Gewalt solidarisiert! Gegen die Täter*innen wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Was die Justiz dem noch hinzuzufügen hat, wird sich zeigen. In der öffentlichen Darstellung sind sie zumindest schon mal „ganz gut“ weggekommen. Der Betroffene wurde mit Schnittwunden ins Krankenhaus eingeliefert und dort behandelt. Im Nachhinein musste er ein Bußgeld entrichten, da er statt eine Maske zu tragen, die er, wie er berichtete, vergessen hatte, seinen Mund nur mit seinem hochgezognenen T-Shirt bedeckte. Außerdem hat sich ihm sowie anderen potenziell von rassistischer Gewalt Betroffenen gezeigt, was sie vermutlich vorher schon wussten: Die Bedrohung, angefeindet und angegriffen zu werden ist in Suhl real und allgegenwärtig, der Wille seitens Polizei und Presse, dem etwas entgegenzusetzen, nicht existent.